Donnerstag, 9. Juli 2009

(K)ein Gang über Leichen…


Nach einer kurzen schöpferischen Schaffenspause um mir selbst einen netten kleinen Krankenhausaufenthalt zu gönnen und natürlich dem „King of Pop“ ein paar Trauertage zu widmen, bin ich nun bis auf Weiteres wieder in der Zivilisation angelangt.



Rückblick München 2003:

Eine kleine Gruppe mir nahestehender Menschen pilgert in Richtung Münchener Olympiapark um diversen – allen Beteiligten unbekannten – Leichen einen Besuch abzustatten.
KÖRPERWELTEN – Die Faszination des Echten - schimpft sich das umstrittene Spektakel. Das Konzept ist mit wenigen Worten erklärt:

Ein Arzt und Anatom namens Gunther von Hagens konserviert durch ein eigens erfundenes Plastinationsverfahren tote Körper und stellt diese in „lebensnahen“ Situationen für die Öffentlichkeit frei zugänglich – zum Zwecke der Wissenschaft und Aufklärung von Laien – aus.

Als 2004 Vorwürfe laut wurden, der Plastinator würde chinesische Hinrichtungsopfer zu Ausstellungszwecken erwerben und aufbereiten, überzog dies eine ohnehin fragwürdige Veranstaltung mit einem Schleier des Obskuren.

Als besagtes Grüppchen nun munter und „anatomisch weitergebildet“ von ihrer Entdeckungsreise in den menschlichen toten Körper zurückkehrte, hatte ich nicht wirklich ein gutes Wort für die Schaulustigen übrig.

Das Problem der Ausstellung liegt scheinbar mitunter in der Glaubwürdigkeit der Intention des Künstlers. Von Hagens betont immer wieder, dass sein Ziel in der medizinischen Aufklärung von Laien liegt und er seine Besucher dazu bewegen möchte, bewusster mit ihrem zerbrechlichen Körper umzugehen, da der Tod die Realität ist und das Leben ein Wunder. Aber wozu hält er dann sein „Dr. Frankenstein Image“ aufrecht? Wozu dieser demonstrative Tabubruch? Reicht es nicht einfach nur Toten die Haut abzuziehen und sie auszustellen? Müssen schwangere Frauen plastiniert werden und muss man Leichname beim Sex zeigen? Muss man winzige Babys auf kleinen schwarzen Samtkissen zeigen? Muss der werte Dr. sich ein möglichst skurriles Outfit (wir erinnern uns an den immer präsenten Hut) zulegen?

Ja, denn ansonsten wären nicht Millionen Menschen auf der ganzen Welt an die verschiedensten Ausstellungsorte gepilgert. Sonst hätten sie sich einen Termin in der örtlichen Pathologie geben lassen um ihr medizinisches Allgemeinwissen aufzubessern.

Meine Vorstellungen von Moral und Ethik sind – falls vorhanden – wohl sehr unterdurchschnittlich ausgeprägt, trotzdem habe ich mir all diese Fragen gestellt und mich gegen diese Ausstellung entschieden, damals. Ich konnte keine Antworten finden, weil ich es schlichtweg, einfach nicht weiß, ob es in Ordnung ist zwei „fremde“ Körper für den Geschlechtsakt zusammenzustecken. Wie muss das für die Angehörigen sein? Immer mit der Vorstellung zu leben, das könnte mein/e Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Tante, Onkel sein? Vielleicht wurde das aber auch in der Familie geklärt, vielleicht haben alle Beteiligten kein Problem damit? Vielleicht.

Als der „Gekaufte-Chinesische-Leichen-Skandal“ dann natürlich immer mehr präsent wurde, hat mich das in meiner ursprünglichen Meinung noch bestärkt. Auch Kriminelle haben nach ihrem Tod noch Rechte und weiß jemand, was für religiöse oder kulturelle Hintergründe für die betreffenden Personen auch nach ihrem Tod noch Bedeutung haben? Dieser aktive Eingriff in das „Leben nach dem Tod“ wäre nicht akzeptabel. Von Hagens dementierte diese Vorwürfe vehement und erstritt diverse einstweilige Verfügungen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass alle Körper von freiwilligen Spendern stammen. Die Sache bleibt unklar.
Was mir allerdings entschieden fehlte, ist die subjektive Wahrnehmung der Ausstellung. Wie empfinden Millionen von Besuchern den Gang durch einen lebendig gestalteten Friedhof? Distanziert und unwirklich? Unheimlich oder beklemmend?

Augsburg 27.06.2009:

Sechs Jahre später gestand ich mir meine Neugierde und Sensationsgeilheit dann doch ein und machte mich auf um die vermeintliche Freakshow aus nächster Nähe zu beurteilen, um endlich alle Zweifel auszuräumen und meine Meinungsbildung abzuschließen.

Ich erwartete das Gefühl des berühmten Verkehrsunfalls, alle ekeln sich und verachten die Neugierigen, aber alle sehen hin. Aber es fühlte sich nicht an wie ein Verkehrsunfall, ganz im Gegenteil. Es war unwirklich und vermittelte einen künstlichen Eindruck. Künstlich, allerdings im Sinne von Kunst. Die Ausstellungsstücke wurden erschreckend professionell in Szene gesetzt und die Atmosphäre vermittelte Diskretion, aber auch Diskrepanz. Also schlichtweg, nicht das was ich erwartete zu sehen und zu fühlen. Keine Freakshow, kein Gruselkabinett, keine Sensation. Eine Kunstgallerie.
Hätte ich mir nicht immer wieder selbst gesagt: „Es sind Leichen, die du da betrachtest“, wäre es mir tatsächlich nicht aufgefallen.

Also wenn rein subjektiv das Gefühl beurteilt werden sollte, mit dem man sich mit den Präparaten auseinandersetzt, dann ist es nur schwer vorstellbar, dass jemand irgendeine gravierend negative Erfahrung zum Ausdruck bringen kann.

Mittlerweile bin ich der Auffassung, dass es wohl nahezu unmöglich ist, den Komplex „Körperwelten“ als ein Ganzes zu beurteilen. Mit Sicherheit gibt es Aspekte die für und Aspekte die gegen den Besuch sprechen. Würde man eine Pro-/Contra-Liste anfertigen wollen, würden sich die Punkte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit von Individuum zu Individuum so unterscheiden, dass jeder zu einem anderen Ergebnis kommt.


„Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen, als ständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird.“
(Charles de Gaulle)